News aus dem deutschen Theater
02.06.23
Warum Hair 1968 den Broadway revolutionierte …
Als die arbeitslosen Schauspieler Gerome Ragni und James Rado auf einer geliehenen Schreibmaschine anfingen, einen lyrischen Theatertext zu schreiben, gab es das Wort Hippie noch gar nicht. Ebenso wenig ahnten sie, dass dieser Stoff 1968 die Theaterwelt grundlegend verändern würde. Die beiden Männer Mitte 20 wollten das, was um sie herum geschah, künstlerisch einfangen. Sie formulierten die Unruhe der jungen Generation, die vom Vietnamkrieg geprägt war.
Der Protest bekommt eine Bühne
Gesellschaftskritische Themen wie Rassismus, Umweltzerstörung, Armut, Sexismus und sexuelle Repression, Gewalt in der Familie, Entfremdung von neuen Technologien und politische Korruption wurden durch Hair erstmals in einem Theater zum Thema gemacht. Und während die Protestierenden auf der Straße angsteinflößend waren, wirkten sie auf der Bühne nahbar und freundlich. „‚Hair war für Menschen mittleren Alters wunderbar. Sie sagten: ‘Oh, das ist der Grund, warum mein Sohn so ist’,“ erzählte der Leiter des Shakespeare Public Theatre Joseph Papp, nachdem Hair am 17. Oktober 1967 seine Uraufführung dort gefeiert hatte.
Unerwartet anders
Im sogenannten „Hippie-Millionär“ Michael Butler fand man einen Geldgeber, der das Musical an den Broadway brachte. Nach einer Überarbeitung durch Tom O’Horgan, in der unter anderem eine Nacktszene gekürzt wurde, konnte es erstmals am 29. April 1968 am Biltmore Theater aufgeführt werden. Es folgten 1.800 Vorstellungen.
Hair kam für die New Yorker Kulturgäste überraschend. Der Broadway war bis dahin ein Ort der Tradition, an dem klare Lyrics gesungen und Stepptanz und Ballett vorgetragen wurden. Als Rockmusik wurden Songs von Elvis verstanden, nicht aber das, was Hair und später Stücke wie Rock of Ages und Jesus Christ Superstar spielten. Zum ersten Mal waren richtige Rockmusik und Musiktheater vereint.
Doch nicht alle Premierengäste waren von diesem außergewöhnlichen Stück überzeugt. Komponist Leonard Bernstein fand das Musical so schlecht, dass er den Saal verließ. Damit war er nicht alleine. Auch die Apollo 13 Astronauten James A. Lovell Jr. und John L. Swigert Jr. gingen, da sie den respektlosen Umgang mit der amerikanischen Flagge, die sich ein Darsteller im ersten Akt um die Schultern wickelt, nicht dulden wollten.
Hair geht um die Welt
Als Hair durchs Land tourte herrschte trotz großer Kritik der Bevölkerung immer noch der Vietnamkrieg und mit ihm die Wehrpflicht. Dem Militär missfiel es, dass diese Anti-Kriegs-Show so großen Zulauf fand und die Menschen in ihrem Protest bestärkte. Zwei Mal wurde vor dem Obersten Gerichtshof der USA erfolglos versucht, die Produktion einzustellen. Doch Hair ging durch die Decke und wurde bald in elf weiteren Ländern, darunter Brasilien, Italien und Japan, gezeigt.
Am 27. September 1968 wurde die über 200 Jahre andauernde Bühnenzensur Großbritanniens durch das Lord Chamberlains Stage Censorship eingestellt. Wenige Stunden später spielte eine Gruppe langhaariger Schauspielerinnen und Schauspieler, von denen ein Drittel afroamerikanische Wurzeln hatte, im Shaftesbury Theatre im West End und zeigte in Hair unzensiert Drogenkonsum, Nacktheit und Antikriegsproteste.
In München zensiert
In Deutschland wurde Haare am 24. Oktober 1986 am Theater an der Brienner Straße in München uraufgeführt. Die Sängerin Donna Summer zog extra für das Stück von Amerika nach München und blieb acht Jahre dort. Doch die bayerischen Behörden sträubten sich ebenfalls gegen das rebellische Stück und stuften es als Revue ein, wodurch eine behördliche Genehmigung nötig gewesen wäre. Die Produzenten ließen sich davon nicht beirren und definierten für Hair ein neues Genre: zeitkritisches Popmusiktheater. Das Stück wurde trotz mehrerer Bußgeldbescheide der Stadt München und Drohungen, das Theater zu sperren, gespielt. Die 20-sekündige Nacktszene fand allerdings unter einer Decke mit der Aufschrift „zensiert“ statt.
Der Soundtrack in den Charts
Dass das Musical bis heute erfolgreich ist, verdankt es jedoch nicht nur der medialen Aufmerksamkeit, sondern auch den Songs von Galt McDermot, der eigentlich ausgebildeter Kirchenmusiker war. Er schrieb 40 Lieder, von denen 20 ins Musical übernommen wurden. Das Album der Broadway Cast war 13 Wochen lang unter den Top 10 der Billboard Charts. Einzelne Lieder wurden von bekannten Popstars wie The Fifth Dimension und Nina Simone gecovert und gewannen so noch mehr Bekanntheit. 1967 wurde das Lied Good Morning Starshine sogar in der Sesamstraße gesungen.
Wir freuen uns, dass Hair – Das Musical vom 14. bis 30. Juli im Rahmen des Münchner Flower Power Festivals, bei uns (natürlich unzensiert) aufgeführt wird. Weitere Infos dazu finden Sie hier.
Quellen:
https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/urauffuehrung-musical-haare-muenchen-was-heute-geschah-24101968-100.html
https://www.nytimes.com/2018/04/29/theater/hair-50-years-later-readers-tell-us-when-they-let-the-sunshine-in.html
https://www.deutschlandfunk.de/vor-50-jahren-urauffuehrung-des-musicals-hair-am-broadway-100.html
https://www.npr.org/2018/05/01/607339204/hair-at-50-going-gray-but-its-youthful-optimism-remains-bouncy-and-full-bodied
https://www.bbc.com/news/uk-england-london-45625785https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/hair-musical-urauffuehrung-was-heute-geschah-1967-100.html
https://www.nytimes.com/1970/06/06/archives/astronauts-find-hair-offensive-lovell-and-swigert-walk-out-after.html
(zuletzt zugegriffen am 01.06.2023)